Wir in den Medien

„Das Licht muss von innen kommen“

Grigori Pantijelew im Interview zum Jahrestag der Befreiung vom Nationalsozialismus

von Anja Semonjek

Warum ist es gerade an diesem Tag, dem 8. Mai, wichtig, das Thema Vielfalt
und Toleranz in den Mittelpunkt zu stellen?

Grigori Pantijelew: Geschichte lehrt uns nur dann, wenn wir bereit sind zu lernen – das Licht muss von innen kommen. Die Lehre aus einem erfolgreich beendeten Krieg, und das ist ein Sieg über den Aggressor, der seine Niederlage akzeptiert, wird oft als ein „Nie wieder“ formuliert. Mit einem bekannten Unterschied in der Deutung – die einen sagen „nie wieder angreifen“, die anderen sagen „nie wieder sich nicht verteidigen“. Beides kann situativ richtig oder falsch sein. Gerade heute ist das sehr aktuell und ein großes Streitthema in der Gesellschaft und in den Medien.
Die Herausforderung ist hier besonders schwergewichtig: Eine falsche Entscheidung wäre fatal. Wer sich angesichts einer existenziellen Drohung pazifistisch stellt, wird möglicherweise untergehen. Allerdings, wer das eigene Volk zu Barbaren erzieht, um in den Krieg zu schicken, wird es wahrscheinlich irgendwann bereuen.

Dazwischen liegen Ruinen und unzählige menschliche Opfer als Preis. Der 8. Mai erinnert uns, die erkämpfte Freiheit mit Inhalt zu füllen.

Vielfalt zu schützen heißt, sich gegen die ersten Keime der Ausgrenzung zu stellen – mit konkreten Handlungen, nicht mit Pathos. Die Erinnerung bleibt kraftlos, ohne die Bereitschaft, unbequeme Lehren zu ziehen.

Was bedeutet Vielfalt und Toleranz für Sie?

Das Judentum steht zu Klarheit und Eindeutigkeit und ist gleichzeitig offen für Facetten, Widerspruch und geregelte Absprachen. Die gelebte Vielfalt würde ich als eine riesige Bereicherung loben. Dazu sollte aber unbedingt eine gesellschaftliche Absprache über die Grenzen der Toleranz gehören – man darf nicht tolerant gegenüber der Verletzung der Toleranz sein.
Insofern hat die praktizierte Toleranz viel mit den Werten und der Erziehung und der Akzeptanz der Werte zu tun. Kriege beginnen nicht, weil Menschen intolerant werden. Die Intoleranz wird als Entmenschlichung eingesetzt, um Kriege zu ermöglichen. So müssen wir als Demokraten aufpassen, wen wir mit unserem Vertrauensmandat zur Regierung befähigen. Wenn die Regierung beginnt, uns Ängste zu machen und über die Feinde zu erzählen, sollten wir uns Gedanken machen, ob wir die Lehren aus dem 8. Mai gezogen haben. In der jüdischen Tradition wird Lernen als lebenslanger Prozess verstanden.

Ähnlich sollten wir Vielfalt nicht als statischen Zustand, sondern als kontinuierlichen Dialog begreifen – einen Dialog, der manchmal unbequem sein darf, aber immer die Würde des Gegenübers respektiert. Im Zweifelsfall wieder das Buch von Margarete und Alexander Mitscherlich lesen –
„Die Unfähigkeit zu trauern“. Das wäre das Buch aus Deutschland nach dem 8.Mai – als Pendant zu Paul Celans „Todesfuge“.

Was tun Sie, um Menschen aus anderen Kulturkreisen näherzukommen sowie besser zu verstehen und wie baut man Ihrer Meinung nach diesen Menschen gegenüber Toleranz auf?

Wir sind in Bremen eine Minderheit, zur Jüdischen Gemeinde zählen etwa 800 Menschen, und wenn wir auch die mitzählen, die nicht zur Gemeinde gehören, sind wir trotzdem eine sehr kleine Gruppe. Ich bringe ein konkretes Beispiel: Vor vier Jahren haben Muslime und Juden in Bremen vereinbart, einander regulär zu besuchen, einmal pro Jahr, ohne Tamtam, ganz niederschwellig und sogar mit der Unterstützung der Senatskanzlei. Wir trafen uns vor Ort, saßen gemeinsam und hatten gute Gespräche zu Tisch.

Es war ein deutliches Fazit jedes Mal – wir haben mehr gemeinsam, als wir denken, und noch einmal mehr gemeinsam, als Dritte über uns denken.

Gemeinsamkeit ist eigentlich mehr als Toleranz, es ist schon eine gelebte Verständigung, würde ich sagen. Nun, nach zwei erfolgreichen Begegnungen, kommt keine Fortsetzung – seit dem 7. Oktober 2023 werden unsere Anfragen zur Fortsetzung nicht beantwortet. Jetzt, wo gerade die Sprachlosigkeit und die Ratlosigkeit die zwei bedauernswerten Krisenworte der Zeit sind, wäre es besonders wichtig, im Gespräch zu bleiben. Dieses Beispiel zeigt: Für ein Gespräch braucht man zwei Seiten.

Ein anderes Beispiel sind die „Jüdischen Gespräche“ in und mit der Stadtbibliothek. Seit zwei Jahren kommen hier alle zwei Monate etwa 30 jüdische und nicht-jüdische Bremer zusammen.

Diese Kontinuität zeigt: Verständigung braucht vor allem die Bereitschaft, zuzuhören und nachzufragen, statt in vorgefertigten Bildern zu verharren. Solche Begegnungsräume werden in unserer polarisierten Gesellschaft immer wichtiger.

Das Interview führte Anja Semonjek.